Die Rosenheimer Stiftung Neon hilft PC-süchtigen Jugendlichen, sich vom Bildschirm zu lösen. Die Alternative heißt „Warhammer“, funktioniert wie ein Online-Strategiespiel – nur dass Figuren und Szenerie echt sind
Wie sehr er seinen Körper quälte, merkte Lukas Strack erst nach Monaten. Ihm fiel zwar auf, dass er nie mehr Hunger hatte, schlecht schlief und schon über Kleinigkeiten mit seinen Eltern in Streit geriet. „Richtig aggressiv wurde ich“, erzählt der schmale 16 Jährige, der eigentlich anders heißt. Doch dass diese Veränderung etwas damit zu tun hatte, dass er, anstatt zu schlafen, nächtelang bis morgens um drei auf Facebook chattete und über Twitter in manchen Nächten bis zu 250 Nachrichten in die schlafende Welt hinausschoss, wollte Lukas nicht wahrhaben.
Wahrscheinlich war der stille Zehntklässler computersüchtig. Eine richtige Diagnose hat er nie bekommen, weil die Computersucht bislang nicht als psychische Erkrankung anerkannt ist. Doch dass Lukas den Ausknopf nicht fand, obwohl er todmüde war, und dass er immer noch twitterte, als längst nichts mehr in seinem Leben passierte, ist für Benjamin Grünbichler von der Stiftung Neon zumindest ein Indiz dafür. „Die Grenze liegt darin, ob jemand aus Passion oder aus Obsession vor dem PC sitzt“, sagt Grünbichler. Mit seinen Sneakers und dem Dreitagebart sieht der 31-jährige Gründer der Stiftung für Prävention und Suchthilfe in Rosenheim nicht viel älter aus als die Jugendlichen, die er berät.
An diesem Mittwochabend im Dezember steht Lukas Strack um kurz vor 18 Uhr an der Treppe seines Elternhauses. Er muss los, er will nicht zu spät kommen. Gleich beginnt sein zweites Treffen mit einer neuen Welt – einer Welt en miniature, aufgebaut auf langen Tischen. Bunte Figuren in Modelleisenbahnumgebung, die sich anhand von Würfelglück und Strategie bekämpfen, bis ein Team aufgibt oder nach einigen Runden gezählt wird, wer noch mehr Kämpfer auf dem Spielfeld stehen hat. „Warhammer“ ist eine Art Computerspiel in der Realität – und daher ein ideales Ventil für Jugendliche, die vom Computer loskommen sollen, wie Benjamin Grünbichler vor einigen Jahren herausgefunden hat. „Logout“ heißt das bayernweit einzigartige Interventionsprogramm für 14- bis 18-Jährige, in dem neben Familienberatung und Gruppentreffen das Warhammer-Spielen ein fester Bestandteil ist.
Waren es vor einigen Jahren vor allem Online-Rollenspiele wie World of Warcraft, die Jugendliche stundenlang an den PC fesselten, bergen Soziale Netzwerke inzwischen ein ebenso großes Suchtpotenzial wie die sogenannten „free to play“-Spiele, bei denen nur die Grundversion kostenlos ist. „Wir haben einiges ausprobiert an Alternativen zum Spielen“, sagt Benjamin Grünbichler, „denn die Jugendlichen brauchen etwas, mit dem sie ihre frei gewordene Zeit füllen können.“ Yu-Gi-Oh!-Kartenspiele kamen gut an, auch das Klettern in einer Halle. „Aber nichts hat so eingeschlagen wie Warhammer.“
Als Grünbichler vor vier Jahren zusammen mit zwei gleichaltrigen Freunden die Stiftung Neon gründete, wollten die drei vor allem eins: weg vom angeschmuddelten Image der Suchtkrankenhilfe. Sie wählten schöne, helle Räumen in der Rosenheimer Altstadt. Bei der Suche nach Offline-Alternativen, um die Jungs vom Computer wegzulocken, wurde Grünbichler in einer alten Diskothek nur ein paar Minuten von der Beratungsstelle entfernt fündig. Hier trifft sich der Rosenheimer Tabletop Club: Burschen, die in einer Modelllandschaft Armeen gegeneinander antreten lassen, bewaffnet mit Würfel und Metermaß.
Seit den Sommerferien nimmt Lukas Strack an Logout teil. Ihm haben bereits die Familiensitzungen die Augen geöffnet, sagt er. „Neon war Reflektieren – da habe ich erst mal gemerkt, dass durch Facebook verdammt viel Zeit weg ist.“ Für diesen Abend beim Tabletop Club hat sich Lukas die Tau-Kämpfer ausgesucht. Ein junges modernes Volk in roter Rüstung, das sich im Schutz der aufgereihten Coladosen an die gegnerischen Orks heranpirscht. Diese sind zwar in der Überzahl, aber leicht zu verletzen, weil sie keine Rüstung tragen. „Auf die sechs“, sagt René, und Lukas weiß, dass er einen Ork besiegt hat, wenn sein Mitspieler keine Sechs würfelt. René, den hier alle nur beim Vornamen nennen, ist eigentlich Fahrdienststellenleiter bei der Bahn, doch wenn Logout-Teilnehmer zum Tabletop Club kommen, erklärt er die Regeln und hilft ihnen dabei, sich in den beiden neuen Welten zurechtzufinden: der Spielewelt von Warhammer und dem Zusammensein mit den anderen jungen Männern. Denn der größte Unterschied zu Onlinespielen ist bei Warhammer: Alleine spielen kann man es nicht.
„Die Teilnehmer tauschen sich aus, helfen sich, spielen in Teams “, sagt Benjamin Grünbichler. Das sei wichtig, denn viele hätten lange Zeit das Gefühl gehabt, niemand außerhalb der Netzgemeinde verstehe sie – am wenigsten die Eltern. „In den Familien herrscht oft eine große Sprachlosigkeit“, sagt Grünbichler. Die Eltern lehnten rigoros ab, was die Kinder im Internet täten – und die gingen in Abwehrhaltung. Lukas kann inzwischen mit seinen Eltern sprechen, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen. Als sein Vater ihn an diesem Abend abholt, blinzelt er unsicher in den Raum, sieht die aufgebauten Coladosen und winzigen Krieger. „Und?“, fragt er. „Wie war’s?“ „Gut“, sagt Lukas. „Wir hätten fast gewonnen gegen die Orks.“ „Soso, Orks“, sagt der Vater und lächelt. „Hey Lukas“, ruft einer der Spieler. „Beim nächsten Mal bringe ich dir meine Imperiale Armee mit, dann machen wir die platt.“ Jetzt lächelt auch Lukas.
Artikel von Sarah Kanning
Quelle: Süddeutsche Zeitung